"Ein Sofa, gegenüber noch ein Sofa, dazwischen ein kleiner Tisch, zum Fenster hin Bücher, hier ein kleiner Schreibtisch, Bücher, Bücher und ein Ofen. Ach, habe ich schön gewohnt."
(Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita, S. 137)
IN EIGENER SACHE
Es war der Sommer, in dem die Fetten Brote sangen "Es ist 1996 / meine Freundin ist weg und bräunt sich", als ich meine erste eigene Wohnung bezog - vor genau zehn Jahren also. In der
Friedrich-Engels-Straße 12, Zweiraumwohnung, Ofenheizung, vierter Stock. Sechs Fenster in Richtung Süden, was bedeutete, dass es im Sommer unglaublich warm und im Winter ab und an sonnig war. Sofort nach dem Einzug strich ich die sich gegenüber liegenden Wände rot bzw. gelb, kaufte einen blauen Flauschteppich und füllte mein Wohnzimmer mit geschenkten Möbeln. Die Nägel steckten bereits an den richtigen Stellen in der Wand und den Küchentisch holte ich aus einer Bodenkammer nebenan.
Durch die Nähe zum Dachboden wurde ich öfter dazu verführt, das Flachdach zu betreten. Steigbügel an Schornsteinen und Vorsprüngen ermöglichten es mir, von meinem Hausaufgang die Friedrich-Engels-Straße entlang über das
Frauenhaus bis zur Poststraße vorzulaufen, wo der Wohnblock leider endete.
Im Wohnzimmer standen sich zwei Sofas gegenüber. Anfänglich hatte ich fast jeden Tag Budenzauber. Bei heißem Tee und grünem Gras saßen meine Freunde und ich beisammen und hörten Vinylschallplatten, vor allem Jungle, Grind, Ambient und
Ton Steine Scherben. Es war auch die Zeit, in der ich den Groove-Jazz (
Lou Donaldson!
Jimmy Smith!) für mich entdeckte und alle meine Freunde damit ansteckte.
Fünf pralle Jahre wohnte ich dort – bis zum
September 2001. Ich war als letzter eingezogen und zog als vorletzter Mieter wieder aus; von den ursprünglich 15 Mietparteien war mir nur noch mein Nachbar, ein Trinker, erhalten geblieben. Die Gebäudewirtschaft favorisierte den Leerzug, obwohl das Haus in der Stadtmitte lag und liegt. Ein Schicksal übrigens, dass sich bei meiner zweiten Wohnung wiederholen sollte…
Mein Ein- und mein Auszug waren jeweils vom Tod eines Menschen begleitet. Im Monat nach meinem Einzug wurde der Bewohner der Wohnung unter mir (Andreas G.) auf brutale und schäbige Weise ermordet: alkoholisierte Jugendliche hatten das ebenfalls alkoholisierte Opfer zusammen geschlagen, um so die Geheimzahl von dessen Geldkarte zu erpressen. Zwei der Täter waren ausgerechnet Nachbarn meiner elterlichen Wohnung, die ich im Monat zuvor verlassen hatte. So klein ist die Welt. Zwei Monate vor meinem Auszug, es war das
Loveparade-Wochenende im Juli 2001, wurde ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Eine Frau war vom Balkon nebenan aufs Pflaster gestürzt, Gehirnflüssigkeit lief über den Bürgersteig. Schon am nächsten Morgen liefen Schulkinder über die des Nachts bereinigten Gehwegplatten, als wär' nichts gewesen.
Dennoch sehne ich mich gern zurück in diese Wohnung, denn die Jahre zwischen dem Sterben waren echt der Hammer! Liebe, Freundschaft, Solidarität; Sex, Drogen, Rock'n'Roll; Unsinn, Genie und Wahnsinn. Und da die Wohnung noch immer leer steht, melde ich mich hiermit an zu einer Wohnungsbegehung: Liebe Gebäudewirtschaft, lass mich nochmal in die Engelstraße N° 12!