Hinter den Kulissen von Hüttenstadt: Icke & die Ickert
Was für ein Weihnachtsgeschenk – und das vier Tage vor Heiligabend. Am 20.12. erlebte die hochaktuelle Dokumentation "Hüttenstadt. Ein Film von Johanna Ickert" in den privaten Räumlichkeiten der Filmemacherin vor mit Neugier geladenen Gästen ihre fulminante Premiere. Dank eines launischen Projektors warf die Stahlarbeiterstadt sowohl Licht als auch Schatten auf die Berliner Wände. Obwohl eher dem Zufall geschuldet als einer geplanten Maßnahme entsprungen, konnte die Premiere in der Hauptstadt an keinem besseren Ort stattfinden als hier: das Hochhaus an der Weberwiese und die Arbeiterpaläste der Stalinallee befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft und erzeugten durch ihre Architektur auf dem von winterlicher Dunkelheit begleiteten Hin- und Rückweg bei euerm ergebenen Erzähler das merkwürdige Gefühl, sich in Wirklichkeit in einem bisher unbekannten Areal der ersten drei Wohnkomplexe von Eisenhüttenstadt zu bewegen.
Unter den Anwesenden, die auf der Premiere Mäuschen spielen durften, waren auch Ben die Ratte und das o so possierliche Opossum Alf. Vier Monate aufwendiger Arbeit stecken in dem einstündigen Filmchen, den die angehende Ethnologin im Rahmen des Studienseminars "Frauenalltag im östlichen deutschen Osten" am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin anfertigte. Im August 2006 hatte Johanna via E-Mail Kontakt zum Verfasser dieser bescheidenen Zeilen aufgenommen. Telefonnummern wurden ausgetauscht und eine Verabredung ausgemacht. Unser erstes Rendezvous hatten wir am ersten Tag des Stadtfestes, einem sommerwarmen Freitag, im Club Marchwitza in den Diehloer Bergen. Johanna hatte sich für die Zeit ihres zehntägigen Aufenthaltes in der dortigen Künstleroase einquartiert. Auf der Terrasse des Clubs fand dann das Interview statt, dass auszugsweise in der Doku zu hören und zu sehen ist. Wir waren uns sofort sympathisch (wie kann man Johanna nicht mögen?) und beschlossen daraufhin, gemeinsam aufs Stadtfest zu gehen, wo auch einige der verwendeten Aufnahmen entstanden. Während sich unsere moderne Leni Riefenstahlin wacker mit der Kamera ins Menschengetümmel stürzte, trottete ich, Sergej Eisengestein, ihr Stativ und Schlüsselbund tragend hinterher.
Das zweite Mal trafen wir uns dann, kurz nur, am Sonntag, zum Ende des Stadtfestes. Johanna hatte ihr Material im Kasten und wollte die Stadt, die ich soeben aus Funkfurt kommend erneut betreten hatte, mit Sack+Pack in Richtung Berlin verlassen. Dort angekommen simste sie mir sogleich euphorisch: "Bin körperlich unversehrt gelandet und fühle mich mit der Aufgabe konfrontiert, ein riesiges Eisenhüttenstadtei auszubrüten. Also ab aufs Stroh." In der Zeit ihrer viermonatigen Schein-Schwangerschaft (die Filmproduktion diente schließlich zum Scheinerwerb an der Uni) hielt euer ergebener Erzähler losen aber herzlichen Kontakt zur brütenden Jungregisseuse, für deren digitales Kind er allmählich väterliche Gefühle entwickelte. Bei meinen Kurzbesuchen fütterte ich Johanna mit aufgewärmten Tonkonserven (Mariachis feat. Ivo Lotion, RE1-Zugansage, Reimgeschwader), die nun am Anfang und zum Ende des Films zu hören sind. Der Filmtitel "Hüttenstadt" leitet sich übrigens von dem gleichbenamsten Lied der Hip-Hop-Formation Reimgeschwader her.
In den knapp zwei Wochen ihres Aufenthaltes in der "Ersten Sozialistischen Stadt Deutschlands" hat unsere tapfere Ethnologin ganze Arbeit geleistet. Ob Junge oder Alte, Eingeborene oder Exilanten, Stadtplaner oder Lokführer, überzeugte Genossen oder genüsslich Überzeugte – Johanna hat sie alle vor die Linse bekommen. Anhand des Gesagten entsteht somit ein repräsentativer Querschnitt aktueller Befindlichkeiten Eisenhüttenstädter Bewohner. Auffällig ist die allseits vorherrschende depressive Grundstimmung der Befragten, die sich fast durchweg kritisch zu ihrer Stadt äußerten. Andreas Ludwig, Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, redet gar so leise, als hätte er schon resigniert und nicht mehr die Kraft etwas laut auszusprechen. Ursula Krüger, die dagegen laut ausspricht, was sie denkt, versteht die Welt nicht mehr: "Wie konnte ein Staat, der so viel Soziales für seine Menschen geleistet hat, so sang- und klanglos untergehen?" Gemeint ist die DDR. Und dann äußert sie etwas, das den Wunsch nach misslungener Verdrängung artikuliert: "Ich habe mir mal geschworen - das ist schon ein paar Jahre her - nie mehr über die Vergangenheit zu reden." Doch von der leuchtend roten Vergangenheit, die auch ein Teil der persönlichen Vergangenheit ist, kommt sie wie viele andere Eisenhüttenstädter nicht los. Zu schön erscheint das sozialistische Abendrot in der Erinnerung im Vergleich zur vernebelten Morgendämmerung der neuen Zeit.
Ganz klar: Eisenhüttenstadt hat eine Identitätskrise. Was fehlt sind Visionen jenseits der materialistischen Konsumwelt. Sozialismus und Volkseigentum sind nicht mehr, doch was tritt nun an deren Stelle? Die Beantwortung dieser Frage steht noch aus. Der bisher vom Staat verwöhnte Eisenhüttenstädter möchte auch weiterhin mit Subventionen gefüttert werden, Eigeninitiative wird kritisch beäugt und Verantwortung auf "die da oben" abgewälzt. Sind wir überhaupt ein lebensfähiges Gemeinwesen?
Was macht unsere hochgeschätzte Nachwuchsregisseuse, die den Stadtbürgern auf so originelle Art den Eisenspiegel vors Gesicht gehalten hat, im neuen Jahr? Sie macht sich auf in die nächste Stadt, diesmal eine richtige Metropole, wo sie drei Monate verbringen wird: London. Wir wünschen Johanna Ickert auf ihrem weiteren Lebensweg alles Gute!
Ein überausführliche Rezension des Films "Hüttenstadt" gibt es hier.