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Freitag, 15. September 2006

Konrad Wachsmann zu Besuch:

Konrad Wachsmann, einer der bedeutendsten Architekten des modernen Bauens, in Frankfurt an der Oder geboren und seit der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten überwiegend in den USA tätig, weilte 1979 in der DDR. Gemeinsam mit seinem Biografen Michael Grüning besuchte er unter anderem auch die „erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden“:

Der Fahrer bremst scharf.
„Was ist?“ fragt Wachsmann und beugt sich vor.
„Wir sind da“, antwortet ihm der Schofför und zeigt auf das Ortseingangsschild von Eisenhüttenstadt.

Der Tatra muß sofort ganz langsam fahren. Wachsmann will alles sehen, Städte vom Reißbrett sind für ihn viel aufregender als die Kathedralen der alten Meister.

„Es sind die wenigen Symbole, denen ich vertraue“, sagt der Professor. „Neue Städte verraten den Zeitgeist ihrer Erbauer. Sie dokumentieren Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung!“

Also rollen wir an Wohnkomplexen, Kaufhallen, Schulen, Kindergärten, einer Klinik und dem Friedrich-Wolf-Theater vorbei.

(…)

Der Tatra rollt weiter. Abseits der Hauptstraßen wird die Stadt gleichförmig. Überall dieselben Häuserblocks. Über die Architektur verliert Wachsmann kein Wort, er will nur erfahren, wieviel Menschen hier leben. Wir wissen es nicht, müssen schätzen, einigen uns auf fünfzigtausend bis sechzigtausend. Das überrascht den Professor. „Gibt es unter so vielen Menschen keine Christen oder Juden?“ fragt er erstaunt.

„Sicher wird es sie geben. Aber warum diese Frage?“ erkundigen wir uns.

„Ich habe nicht einen einzigen Sakralbau gesehen“, sagt Wachsmann. „Städte ohne Kirchen sind so langweilig wie Städte ohne Bäume, Parks, Theater und Restaurants. Außerdem sind neue Sakralbauten die weiteste Offenbarung der Architektur. Denken Sie nur an Le Corbusiers Ronchamp!“

Wachsmann zeigt auf einige Häuser, an denen wir vorüberfahren. „Ihnen sieht man nicht an, daß es in diesem Land einen Gropius, Mies [van der Rohe], Hannes Meyer oder Hilberseimer gab.“ Der Professor sieht traurig aus dem Fenster. „Davon habe ich immer geträumt: einmal eine ganze Stadt bauen.

Wir müssen weiter. Die Zeit drängt, Neuzelle ist noch zu besichtigen, die Kirche eines alten Zisterzienserklosters. Wachsmann döst im Auto, sein Kopf auf dem Polster des Rücksitzes kippt zur Seite. Er schläft, bis wir vor der Kirche halten.


Quelle: Michael Grüning, Der Wachsmann-Report. Auskünfte eines Architekten, Berlin: 1986, S. 151 – 153.

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