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Samstag, 26. Mai 2007

Zeit-/Augenzeugen im Gespräch

"If you know your history, then you would know where you coming from."
(Bob Marley: Buffalo Soldier)

Wer sich so wie ich oder Ben Kaden, ein Nachfahre des großen Historikers Zie Kaden (1851-1922), oder wie die Schüler der AG Geschichte am Otto-Buchwitz-Gymnasium in der Glashüttenstraße intensiv mit der Vergangenheit von Eisenhüttenstadt beschäftigt, der ist immer wieder dankbar, wenn er durch den Kontakt mit Zeitzeugen seine bisherigen Ortskenntnisse vertiefen kann. Zeitzeugen tragen durch ihre individuellen Lebenserfahrungen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Verstehen der geschichtlichen Zusammenhänge mit bei. Die große Weltgeschichte spiegelt sich hierbei in ganz persönlichen Lebensgeschichten wider. Die Geschichtsforschung hat für diese Art der Generationsbefragung sogar ein eigenes Fachgebiet eingerichtet, die oral history. Oral (engl.: durch die Ohren) steht für das Zuhören im Allgemeinen, oral history meint demnach gehörte Geschichte.

Jüngst hatte euer ergebener Erzähler Andi Leser das unverhoffte Glück und konnte ein Interview mit drei berenteten Fürstenberger Urgesteinen führen. Die drei waren Wilhelm Gladbeck (†88), Udo Ramstein (†88) und Peter Remscheid (†88).

Leser: Wie war das denn so, als 1950 damit begonnen wurde, auf Pfeiffers Acker zuerst das Eisenwerk und dann, später, eine neue Stadt zu bauen?

Gladbeck: Ja, das war so, ich entsinne mich noch genau, es war Sommer, der Sommer 1950, da kamen hier plötzlich so viele fremde Menschen in den Ort…

Leser: Sie meinen Fürstenberg an der Oder?

Gladbeck: Ja, klar, wohin denn sonst. Also, da kamen auf einen Schlag so viele fremde Menschen in den Ort, also nach Fürstenberg, und niemand kannte die.

Remscheid: Genau. Alles Fremde. Die kamen mit Sicherheit nicht von hier. Und dann, wie die dann angefangen haben mit dem Bau von dem Eisenwerk, da…

Leser: Sie meinen das Eisenhüttenkombinat Ost, kurz EKO, welches heute Mittal Eisenhüttenstadt heißt.

Remscheid: Äh, ja. Na jedenfalls wie die dann angefangen haben mit Bauen, das war im August, ein ziemlich heißer Sommer, wenn ich mich richtig erinnere…

Ramstein: Ja, du erinnerst dich richtig. Es war sehr trocken gewesen, damals. Erst ist das Getreide vertrocknet und dann die Kartoffeln, nicht wahr? Die konnten wir dann nur noch als Kartoffelchips verkaufen, was zu der Zeit noch völlig unbekannt war, nicht wahr? Die Leute haben das dann nicht gekauft, die Säcke standen ewig in der Scheune herum und wir mussten ordentlich Salz dran tun, damit uns das Zeug nicht verdirbt, nicht wahr?

Leser: Doch jetzt wieder zurück zum Eisenwerk. Herr Remscheid, wie war das denn mit dem Eisenwerk und der neuen Stadt?

Remscheid: Was meinen Sie da konkret?

Leser: Äh, die Anfangsjahre. Die Zeit des Aufbaus. Sie wollten doch gerade davon erzählen.

Remscheid: Irgendwie habe ich den Faden verloren. Er war jedenfalls sehr heiß damals. Heiß und trocken. Meine Frau war den ganzen Tag mit Blumengießen beschäftigt.

Leser: Herr Ramstein, Sie können sich doch sicher noch an den August von 1950 erinnern? Wie haben Sie das erlebt?

Ramstein: Ja, das kann ich gut. Ich lebte zu der Zeit noch in Jüterbog und arbeitete als Kirschenentkerner.

Leser: Ach, ein Zugezogener.

Ramstein: Dort habe ich dann meine spätere Frau kennengelernt, Amalie. Das war genau am 18. August 1950, nicht wahr? Nie werde ich diesen Tag vergessen. Amalie arbeitete damals als Körbeverkäuferin. Hin und wieder ging ich in den Laden, wo sie als Verkäuferin angestellt war, und holte mir einen Korb für meine Kirschen, nicht wahr? Einmal nahm ich allen Mut zusammen und sagte ihr, das sie für mich die schönste Kirsche sei. Daraufhin…

Leser: Jaja, sehr schön. Was ging Ihnen als erstes durch den Kopf, als Sie vom Aufbau der EKO-Wohnstadt, wie Eisenhüttenstadt anfänglich geheißen wurde, hörten?

Ramstein: Ich dachte sofort: Da geh ich hin mit meiner Amalie. Es gibt neue Wohnungen, so hieß es, und auch Arbeit, nicht wahr? Dann 1951 kam mein Ältester auf die Welt, der Jürgen.

Leser: Ah, so. Herr Gladbeck, und was ging Ihnen durch den Kopf?

Gladbeck: Vieles. Sehr vieles. Der Krieg war ja nu gerade vorbei und die neue Regierung hatte sich vieles in den Kopf gesetzt. Ich selbst war da immer skeptisch und dachte nur: Wenn ihr euch da mal nicht verrennt. Wenn ihr euch nur nicht verrennt. Ich sollte recht behalten.

Leser: Wie wirkte sich der Aufbau von Stalinstadt auf Ihr Leben aus, Herr Remscheid?

Remscheid: Wie dann so der Bau begann, waren plötzlich sehr viele Fremde in Fürstenberg. Ging man zum Beispiel abends in eine Kneipe oder auch tagsüber zum Einkaufen, dann waren da überall fremde Menschen. Man wusste nicht, was sind das für welche. Die benahmen sich irgendwie ganz anders und anders gesprochen haben sie auch. Das hätte es früher nicht gegeben.

Leser: Herr Gladbeck, Herr Ramstein, Herr Remscheid – ich danke Ihnen für das informative Gespräch und wünsche Ihnen noch viele schöne Sonnentage in Ihrem weiteren Leben.

Anmerkung: Wen Gott liebt, den ruft er zu sich. Kurz nach dem Interview verstarben die drei Fürstenberger Originale in kurzen Abständen nacheinander. Unschätzbare Zeitzeugen des aufkeimenden Lebens in der "Ersten Sozialistischen Stadt auf deutschem Boden" sind dadurch für immer entschwunden. Dieses Interview stellt somit auch eine Art Vermächtnis dar, welches die Nachkommenden gemahnen soll, sich wider das Vergessen zu stemmen und aufrecht durchs Leben zu gähnen.

HDR-Fotografie: zickenines (flickr)
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