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Freitag, 6. Oktober 2006

Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt, 4

"You're so square / Baby, I don’t care."
(Buddy Holly)

EINTRAGUNG NR. 4

Übersicht: Wohnungsvergabe. Zuteilung der Lebenspartner. D-1808.

Nachdem der fürsorgliche Führer unserer neuen Stadt den schönen und wohlklingenden Namen Stahlstadt gegeben hatte, war befohlene zehn Minuten lang tosender Applaus zu hören. Welch Orkan! Es wird der Tag kommen, an dem werden auch noch die letzten Unterschiede zwischen uns beseitigt sein und 30.000 Klone werden im Gleichtakt klatschen. Ein großer Organismus mit tausenden, ach: Millionen Händen!

Im Anschluss an die Namenverleihung erfolgt die heißersehnte Vergabe des Wohnraums. Die Klone waren dazu aufgerufen, sich in Reihen zu formieren. Vor dem Obelisken standen Schalen randvoll mit kleinen Zetteln. Die Zettel wurden jeweils mit einer Nummer versehen, die einem bezugsfertigen Wohnraum zugeordnet war. Jede Wohnung besteht aus zwei Wohnräumen, so dass immer zwei Klone als Lebenspartner zusammen leben. Nun könnte jemand, der unsere Gesellschaftsordnung nicht kennt, einwerfen, dass diese Wohnungsvergabe vom Zufall bestimmt sei und deshalb dem Einfluss einer unberechenbaren Größe ausgeliefert ist. Dem ist nicht so! Wir Klone sind einander so ähnlich, nein, ich muss mich korrigieren: wir sind komplett identisch – und das sind auch unsere künftigen Wohnungen. Niemand muss sich bevorzugt oder benachteiligt fühlen, denn alle neuen Lebensgemeinschaften werden einander ohnehin gleichen.

Wenn ich eben behauptet habe, dass wir Klone komplett identisch sind, so muss ich ergänzen, dass es zwei Grundformen gibt, die sich zwar voneinander unterscheiden, doch untereinander gleich sind, da sie sich von denselben Prototypen ableiten. Demnach gibt es weibliche Klone, die alle vom Klon Dolly abstammen, und es gibt männliche Klone, die perfekte Kopien der Originaltype Klon Ferdinand sind. Ich zum Beispiel bin die viertausendsiebenhundertundzweiundzwanzigste Kopie des Klons Ferdinand und höre folglich auf den völlig logischen Namen F-4722.

Die Nummer auf dem Zettel, den ich aus der Schale zog, lautete übrigens 14-12-4-3, was nichts anderes bedeutet, als dass sich mein Wohnraum in der 14. Straße, 12. Treppenaufgang, 4. Stock und hinter der 3. Tür befindet. Vor dieser Tür traf ich dann den mir zugeteilten Lebenspartner: D-1808. Sie sah aus wie alle unsere weiblichen Klone – wunderschön. Dem Brauch entsprechend musste ich D-1808 über die Schwelle tragen, damit wir beide gleichzeitig die Wohnung betreten konnten. Von nun an waren wir ein Paar, die kleinste Zelle eines großen Staatsorganismus‘.

Kaum hatten wir die Wohnung in einer gemeinsamen Begehung besichtigt, schlüpfte D-1808 auch schon ins Hygienezimmer und verschloss die Tür vor meiner Nase. Ich war etwas irritiert, denn eigentlich durfte es keine Geheimnisse zwischen uns geben. Daraufhin ging ich in meinen Raum und erfreute mich seiner quadratischen Grundfläche. Wie wohlproportioniert alles war! Ich geriet sogleich ins Tagträumen und stellte mir vor, dass genau in diesem Augenblick 30.000 Klone ebenso wie ich in ihren Räumen sitzen und die himmlische Geometrie unserer revolutionären Architektur bestaunen. Ich übertreibe keinesfalls, wenn ich behaupte, dass wir den rechten Winkel neu erfunden haben.

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