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Sonntag, 28. September 2008

Wenn der Schläfer erwacht

"Und nichts von dem... das den... Schläfer... in mir erweckte."
(Frank Herbert: Der Wüstenplanet)

Diese Geschichte habe ich noch nie jemandem erzählt, aus Angst für verrückt gehalten zu werden. Dabei ist ein jedes Wörtchen wahr, ich habe sie alle im Wörterbuch gefunden.

Es war 1988, also vor 20 Jahren, da kam ich in die Pubertät und hatte ständig Streß mit meinen Eltern. Sie wollten andauernd, dass ich dies und jenes mache, spionierten mir hinterher und hatten auch sonst vergessen, dass sie selber einmal Kinder gewesen waren. Ich verweigerte meine Mitarbeit wiederholt mit dem Satz: Ich möchte lieber nicht." Als Strafe für mein Fehlverhalten gab es Sanktionen: Fernsehverbot, Liebesentzug, frühes Zubettgehen. Auch in der Schule gab es viel Zoff, denn Direktor Diedrich Knickerbocker war ein gestrenger Patron.

Einmal sollte ich in den Club Hans Marchwitza in den Diehloer Bergen gehen, um dort für meine Eltern etwas abzuholen. Dabei verlief ich mich sowas von dermaßen in den Gartenanlagen, dass ich mich gar nicht mehr zurecht fand, denn ich war noch nie im Marchwitza-Club gewesen. Irgendwann gelangte ich hinter den Gärten in den Wald und setzte mich erschöpft nieder. Als ich mich zum Weitergehen anschickte, hörte ich aus der Ferne ein Rufen: "Andi Leser! Andi Leser!" Ich sah mich um, konnte aber nur eine Krähe im einsamen Flug erkennen. Ich dachte schon, meine Fantasie hätte mich genarrt, da vernahm ich das selbe Rufen: "Andi Leser! Andi Leser!"

Plötzlich entdeckte ich eine sonderbare Gestalt, die sich mit einer Last auf dem Buckel durch den Wald mühte. Beim Herankommen sah ich, dass die Gestalt einen alten Mann mit einem Kasten Bier ergab. Der alte Mann bedeutete mir näherzukommen und beim Tragen zu helfen. "Fass mal mit an, Andi!" Hätte das Hutzelmännchen nicht meinen Namen gewusst, ich wäre lauthals schreiend weggelaufen.

So stapften wir durch die Diehloer Berge, bis wir zu einer Lichtung kamen, auf der sich bereits eine Gesellschaft um eine hohe Kiefer versammelt hatte. Was mich am meisten verwunderte war, dass die Leute, obwohl sie sich offensichtlich amüsieren wollten, die ernstesten Mienen zur Schau trugen. Wir stellten den Kasten Bier ab und der Alte bekam eine Axt in die Hand, mit der er die Kiefer umhauen sollte. Die versammelten Leute zählten jeden Axthieb lautstark mit. Als die Kiefer umfiel, machte mir der Alte Zeichen, ich solle die Gesellschaft bedienen und soviel Flaschenbier vergeben, wie er Axthiebe gebraucht habe. Zum Schluss blieb eine Flasche übrig, die ich mir öffnete und zum Mund führte, bis meine Sinne umnebelt wurden, die Augen schwammen und ich vor Ort in tiefen Schlaf fiel.

Beim Erwachen stand die Sonne hoch am Himmel und ich bekam einen Schreck, denn es war mir wie Frühling. Die Vögel zwitscherten, die Bäume trugen zartes Grün und alles blühte. Meine Kleidung hing in mürben Fetzen an mir. Dann fiel mir ein, was sich ereignet hatte, bevor ich eingeschlafen war. Oh! Diese Flasche! Verdammtes Bier!

Ich machte mich auf den Weg heimwärst und rechnete in Gedanken schon mit den Bestrafungen meiner Eltern, als ich auf einem nahen Weg einen Opel Calibra fahren sah. Ich nahm dies als Glück spendendes Omen, denn ein Westauto war in meiner Kindheit etwas sehr seltenes. Doch je näher ich der Stadt kam, desto mehr West-Pkw waren zu sehen. Auch gab es neue Straßenschilder, die mir die John-Schehr-Straße als Poststraße auswiesen. Ich war irritiert.

Es gab noch weitere Unklarheiten. Über unserer HO-Kaufhalle stand mit einem Male SPAR, der heute verschwundene Kiosk war dicht bepackt mit Bild-Zeitung, Bravo und Tagesspiegel. Vorne an lag der Asterix-Band "Der Kampf der Häuptlinge". Ich frug einen Passanten, ob wir denn jetzt im Kommunismus leben würden, doch der ranzte nur: "Rote Socke!"

Zuhause angekommen, fielen mir die vielen Westaufkleber auf, die an unserer Wohnungstür klebten. Als ich die Klingel betätigte, öffnete mir mein Vater, der mich nicht zu erkennen schien. Auch sah er merkwürdig alt aus. "Erkennst du mich denn nicht?" fragte ich ihn. Es dauerte eine Weile.

Aus irgendeinem Grund waren inzwischen fünf Jahre vergangen. Die Wende hatte ohne mich stattgefunden und meine Mutter war aus Gram über meinen Verlust an gebrochenem Herzen gestorben. Die Sache hatte aber auch sein Gutes. Ich war endlich volljährig, konnte meine Lebensmittel mit harten Devisen kaufen und mir selbst einen Flug nach New York genehmigen. Das war ein Traum, aus dem ich nicht mehr aufwachen wollte.

Durch den Heimatforscher Helmut Brosam, der einen der ersten Berichte über die Stahlinstadt geschrieben hat, erfuhr ich, was es mit meinem Erlebnis auf sich hatte. Er versicherte mir, es sei eine überlieferte Tatsache, dass in den Diehloer Bergen schon immer seltsame Wesen herumspukten. Auch sei bestätigt, dass der ehemalige Industrieminister Fritz Selbmann hin und wieder in den Bergen erscheine, um ein wachsames Auge auf die Stadt zu werfen, deren Errichtung er seit 1950 vorangetrieben habe. So hatte er mit dem Fällen einer Kiefer am 18. August 1950 das Startsignal für den Aufbau des Eisenhüttenkombinats gegeben.

So war es gewesen, das kann jeder lesen.

(26.09.2008@e-stadt.de)

1 Kommentar:

  1. Anonym10:53 PM

    Es stimmt. In dem berühmten Hollywood-Wintermützen-Drama "Dr. Selbmann oder wie ich die Bommel zu lieben lernte" findet sich eine ganz ähnliche Geschichte, die nur in ganz anderen Worten und mit einem völlig neuen Zusammenhang erzählt wird. Ein weiterer Klassenschlager zu diesem Thema war "Liebling Kreuzberg, hältst Du mal die Axt" ein herausragendes Werk des "ekstream of consciousnesss" mit Manfred dem Krug, der solange für seine Schmelzerkollegen zum Brunnenring ging, bis dieser brach (lag).

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