Selbst-Anzeige

Sonntag, 1. Oktober 2006

Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt

"You're so square / Baby, I don’t care."
(Buddy Holly)

EINTRAGUNG NR. 1

Übersicht: Eine Zeitungsnotiz. Der Vater des Volkes. Der rechte Winkel. Die ideale Stadt.

Ich gebe hier genau wider, was ich der heutigen Ausgabe unserer Staatszeitung Die Wahrheit entnehme: "Morgen, am Y. Jahrestag unserer Großen Volksrevolution, wird ein weiterer Meilenstein den Weg des unbeirrbaren Fortschritts pflastern. Der fürsorgliche Führer des Einzigen Demokratischen Volksstaates (E.D.V.) und Vorsitzender der Institutionalisierten Revolution (InRe) wird unter seinen getreuen Geschöpfen weilen und die neue Stadt – SEIN GESCHENK AN UNS – mit der Abnahme einer Militärparade einweihen. Dabei wird der revolutionäre Name unserer neuerbauten Stadt bekannt gegeben. Im Anschluss beginnt auf dem Zentralen Platz der Republik die gerechte Zuteilung von Wohnraum und der Lebenspartner. Für die gesamte Dauer des Tages ist Jubelstimmung angeordnet."

Darüber hinaus ziert die Titelseite der Staatszeitung, die aus Gründen der Papierkontingentierung nur einseitig erscheint, die Abbildung eines ungefähren Stadtplans (man muss stets vor Spionen auf der Hut sein) sowie, in derselben Größe, ein Foto unseres fürsorglichen Führers. Durch seinen weißen Bart hat ER das gütige und gleichsam gestrenge Gesicht eines liebenden Vaters. Und das ist ER auch: der Vater seines Volkes. O wie weise ist ER und ach wie unwissend sind wir! Wie gern würden wir unsere unwürdigen Leben hingeben für IHN, den vollendeten Menschen! Oft schon träumte mir des Nachts, dass ich die unverdiente Gnade bekäme, einen Anschlag auf den Führer zu vereiteln, indem ich mich schützend vor IHN warf und tapfer alle tödlichen Kugeln mit meinem Körper auffing. Der Führer zeigte sich jedes Mal so angetan von meiner Heldentat, dass er sich zu mir herunterbeugte, mir anerkennend in die Wange kniff und sagte: "Du hast dein Leben für das Wichtigste im Leben geopfert: für dein Vaterland."

Ich gerate schon wieder ins Tagträumen, dabei ist uns das ausdrücklich verboten. Der abgedruckte Stadtplan lässt trotz seiner Unbestimmtheit bereits die Großartigkeit der gesamten Stadtanlage erahnen und offenbart die idealste aller idealen Städte, das neue Jerusalem. Alles steht zueinander im rechten Winkel, denn jener ist das einzige Grundgesetz der vollkommenen mathematischen Harmonie. Der rechte Winkel ermöglicht uns das Konstruieren perfekter geometrischer Flächen und idealer architektonischer Körper; von Rechtecken und Quadraten, welche die chaotischen Unebenheiten des Roten Planeten in planen Baugrund verwandeln; von Quadern und Kuben, welche die Unendlichkeit des Raumes begrenzen und in ein menschliches Maß zwingen. Man kann sagen, der rechte Winkel ist die sichtbare Manifestation einer göttlichen Vernunft im Diesseits.

Die Stadt ist viereckig angelegt, ebenso lang wie breit. Sie ist zwölftausend Wegmaße lang und ebenso breit und wird von einer hohen gläsernen Mauer umgeben, die von vier Toren unterbrochen wird, für jede Himmelrichtung eines. Die Stadtmauer wurde auf zwölf Grundsteinen errichtet, auf denen die Namen der zwölf Märtyrer unserer Großen Volksrevolution stehen. Einen Tempel gibt es nicht in der Stadt. Unsere Kirche ist der Tempel der Arbeit, das Eisenwerk vor den Toren der Stadt, die hehre Kathedrale des Sozialismus. Wie sehr erwarte ich das Morgen, wenn die Zukunft endlich beginnt!

...wird fortgeätzt...

(01:10:2006@e-city:de)

1 Kommentar:

  1. Dieser fiktive Tagebuch-Eintrag ("Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt") ist ganz klar inspiriert worden von dem gleichnamigen Song der NDW-Rocker Extrabreit ("Hurra, hurra, die Schule brennt", "Polizisten"), der auch auf dem Album "Welch ein Land! - Was für Männer!" zu finden ist.

    Leider musste ich vor zwei Wochen, als ich den Augenzeugenbericht eines Holocaustüberlebenden Korrektur las, feststellen, dass die Nationalsozialisten mit der zynischen Parole "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" das Konzentrationslager Theresienstadt in Betrieb nahmen.

    Ich weiß nicht, ob den Rockern von Extrabreit dies entgangen ist, weil sie gerade ihrem Bandnamen alle Ehre gemacht haben, oder ob sie damals wirklich nicht bescheid wussten, worum es sich handelt.

    Jedenfalls möchte ich mit meiner Geschichte weder den Holocaust lächerlich machen noch das Judentum oder die Zeit des Nationalsozialismus. Die Handlung spielt explizit auf keines der soeben genannten Größen an, es geht lediglich um autokratische Systeme im Allgemeinen.

    Der Autor

    AntwortenLöschen