EssenZmarken
Es gab eine Zeit, da flogen mir nicht gebratene Tauben in den Mund, doch ich bekam immerhin an einem jeden Werktag ein komplettes Mittagessen auf einem weißen Teller ausgehändigt, welches ich mit Hilfe von metallisch schmeckendem Alubesteck verspachtelte. Das Einzige, was ich dazu tun musste, war Essengeld bezahlen. Dafür bekam ich fünf graue Essenmarken á 55 Pfennige. Macht zusammen zwei Mark fünfundsiebzig. 2,75 Mark – die Summe hat sich mir ins Gedächtnis eingeprägt. Zehn Jahre lang hielt ich jeden Dienstag dieses Geld bereit. Auf den Marken waren die Schule, die Klassenstufe, das Schuljahr und der Wochentag aufgedruckt. Außerdem waren die Essenmarken in jedem Schuljahr anders grau eingefärbt: blaugrau, grüngrau, dunkelgrau, hellgrau. Es brachte also nichts, eine vergessene Essenmarke aufzuheben, die bezahlte Leistung konnte nicht aufgespart werden.
Hatte ich die Marken, dann konnte ich in der folgenden Woche in der riesigen Aula an einem quadratischen Tisch sitzend mit meinen Klassenkameraden eine warme Mahlzeit verdrücken. Wir nutzten diese Möglichkeit ausgiebig zum Schwatzen; wir witzelten herum, erzählten Filmsequenzen aus dem Vorabendprogramm nach und malten mit dem Alubesteck Dinge auf den Tisch. So manches Mal kickten wir möglichst unauffällig holzige kubanische Apfelsinen unter den Tischen hindurch auf die gegenüber liegende Seite der Aula, wo anfangs die Großen saßen und später die Kleinen, da nunmehr wir die Großen geworden waren.
Die Aula war mit Parkettfußboden, einer hölzernen Bühne und einem schwarzen, stets verschlossenen Klavier ausgestattet. Links und rechts der Bühne waren die Mädchen- bzw. Jungstoiletten. Zu besonderen Anlässen stand auf der Bühne ein Mikrophon. Am Klavier vor der Jungentoilette begann zumeist das Schlangestehen, die Essenausgabe befand sich gegenüber der Bühne, auf der anderen Seite des Raumes. Die aktuelle Essenmarke hatte ich immer in der hinteren Hosentasche zu stecken, wo sie durch das Herumrutschen auf dem Stuhl bereits die faserige Konsistenz von Löschpapier angenommen hatte.
Der Essenplan folgte einem ganz bestimmten Ablauf. Anhand des Wochentages ahnte man schon im vorhinein, was es geben würde. Und umgekehrt: anhand des Essens erinnerte man den Wochentag. Montags gab es über Jahre hinweg Nudeln mit brauner oder roter Soße. Ob als Spaghettis mit Tomatensoße, Spirellis mit Ungarischem Gulasch, Makkaronis mit Jägerschnitzel oder Milchnudeln. Oder es gab eine Nascherei, die uns wohl auch den Einstieg in die Woche versüßen sollte: Milchreis, Grießbrei, Eierkuchen, Hefeplinse oder Hefeklöße. Die Hefeklöße – es gab sie viel zu selten – waren handgemacht und bestanden aus einer riesigen Teigmasse, die erst in auftischbare Portionen zerrissen werden musste.
Der Dienstag war etwas unvorhersehbarer und tauschte sein Angebot oft mit dem Donnerstag: Kartoffeln mit Quark, mit Tiegelwurst und Sauerkraut, mit Schnitzel und Rotkohl, mit sauren Eiern in Senfsoße, mit Königsberger Klopsen oder mit Lungenhaschee (Haschee, izmir übel). Oder Schweinebauch, schön fett paniert. Dazu ein Dessert, welches im Idealfall aus Vanillepudding mit eingeweckten Erdbeeren bestand, im schlimmsten Fall aus höllischem Kürbiskompott, was optisch himmlisches Pfirsichkompott imitieren sollte.
Der Mittwoch war den Freunden der Hülsenfrüchte und der Eintöpfe vorbehalten. Am liebsten mochte ich Weiße Bohnen, Linsen süßsauer, Erbseneintopf und Kartoffelsuppe. Mohrrüben- oder Weißkohleintopf hingegen waren mir kein Vergnügen, dennoch vermisse ich den Geschmack auch dieser Schulspeisung.
Donnerstag: siehe Dienstag.
Freitags gab es Fischstäbchen oder Bismarkhering oder Brathering. In einer anderen Erinnerung gab es immer freitags Milchreis, Grießbrei, Eierkuchen, Hefeplinse oder Hefeklöße. Ich weiß es nicht mehr so genau. Dies herauszufinden ist Aufgabe der Historiker zur Aufarbeitung der DDR-Aula-Geschichte.
Kurz nach dem Ende der DDR löste sich auch die gewohnte Form der Schulspeisung, die mittlerweile unauflöslicher Bestandteil meines Lebens geworden war, in etwas Ungewohntes auf. Die über Jahre hinweg stabilen Essenpreise unterlagen plötzlich einer rasanten Inflation. Dafür nahm die Qualität des Essens ab. Auf einmal gab es Assietten, in Alufolie eingeschweiste Mahlzeiten, die in drei Felder aufportioniert waren: ein Feld für die Sättingungsbeilage, ein Feld für Gemüse und Kompott und das größte Feld für Fleisch, Soße und den ganzen Rest. Durch die hermetisch abgeschlossene Unterbringung aller Beilagen in einem Gefäß, war der Geschmack mit Garantie verdorben. Die Kartoffeln dufteten nach Bratensoße, das Kompott roch nach Kartoffeldampf und das Fleisch schmeckte nach allem. So entdeckte ich die eigene Küche für mich und das möglichst zeitökonomische Zubereiten von Tiefkühlpizza, Miracòli und Eierkuchen mit Apfelmus.
Doch manchmal träume ich noch von den Hefeplinsen und Hefeklößen von damals.
Und wer eine Woche hungerte, konnte sich mit schönen blauen Essengeldturnschuhen eindecken. Ein Statussymbol trug man damals damit - im Gegensatz zu heute und auf dem Prenzlauer Berg - nicht unbedingt am Fuß. Allerdings wird manchmal behauptet, dass die Schuhe besser schmeckten als das Schulessen - wenigstens mit Essig und Öl, was ich selbst nicht bestätigen kann.
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