Selbst-Anzeige

Montag, 2. Oktober 2006

Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt, 2

"You’re so square / Baby, I don’t care."
(Buddy Holly)

EINTRAGUNG NR. 2

Übersicht: Ein seltsamer Traum. Sinfonie & Harmonie. Der Blick des Führers.

Als an diesem Morgen das allgemeine Wecksignal "Klone, hört die Signale" ertönte, wurde ich aus einem sehr seltsamen Traum gerissen. Gerade eben hatte ich zum wiederholten Mal unserem fürsorglichen Führer das Leben gerettet, doch als er sich wie üblich zu mir hinunterbeugte, um mir in die Wange zu kneifen, rutschte ihm plötzlich die Mütze vom Kopf und langes langes lockiges Haar wallte links und rechts herab. Der weiße Bart war plötzlich verschwunden und eine sanfte Hand streichelte mir anmutig das Haupt. „Mein Held“, flüsterte eine feminine Stimme. Just im entscheidenden Moment, als ich versuchte, das dazugehörige Gesicht klar zu sehen, dröhnte das allgemeine Wecksignal los wie die Posaunen von Jericho und zerstörte meine irrationalen Traumgespinste.

Alle Klone des Einzigen Demokratischen Volksstaates (E.D.V.) waren heute von einer freudigen, doch gezügelten Begeisterung ergriffen und entsprechend den Dienstgraden in blaugraue Paradeuniformen gekleidet. Kein Wunder, war doch der Y. Jahrestag der Großen Revolution der Geburtstag eines jeden Einzelnen von uns. In dem Transportraumschiff, welches uns von der kargen Mondlandschaft zur Oberfläche des Roten Planeten beförderte, erklang die Musik des guten alten Ludwig van: „Froh wie seine Sonnen fliegen / Durch des Himmels prächt’gen Plan, / Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen.“ Diese Musik war angewandte Mathematik, hörbar gemachte Zahlenharmonie, klar wie Kristall. Die Anordnung der unterschiedlichsten Töne zu einem sinfonischen Ganzen sollte uns ein Vorbild sein, denn wie ein Dirigent mit eiserner Disziplin den Einzelwillen seiner Musiker bindet und zugunsten einer höheren Schönheit ordnet, so müssen auch wir Klone uns völlig dem Willen unseres fürsorglichen Führers unterwerfen, damit dieser aus unserem Zusammenspiel eine höhere Gesellschaftsordnung komponieren kann. So wie ein falsch gestimmtes Instrument für Missklang sorgt und ein ganzes Stück ruiniert, so kann auch ein falsch gestimmter Klon die ganze Gemeinschaft sabotieren. Hierzu war es notwendig, dass die Klone im Allgemeinen auf eine eigene Meinung verzichteten.

Das Transportschiff landete direkt vor dem östlichen Stadttor, durch das zu marschieren wir nun angehalten waren. Im Gleichschritt und zu quadratischen Formationen ausgerichtet stampften wir dem goldenen Zeitalter entgegen. Obwohl die strengen Marschregeln Augen geradeaus vorschrieben, riskierte ich doch einen Blick zur Seite, denn ich sah dies alles zum ersten Mal in meinem Leben: die schnurgeraden Straßen, das lichtfunkelnde Glas des Straßenpflasters, die langgestreckten Kuben der durchsichtigen Wohnhäuser, die quadratische Harmonie der blaugrauen Marschblöcke.

Die Stadt, neue Heimat für exakt 30.000 Klone, wird von zwei Hauptverkehrsstraßen (cardo und decumanus) durchzogen, die sich im Zentrum kreuzen. Dort war die Symmetrie zugunsten eines Zentralen Platzes, in dessen Mitte ein gigantischer Obelisk errichtet worden war, aufgehoben. Aus drei Himmelrichtungen marschierten die Klone auf den Platz zu, um sich vor einer Tribüne zu positionieren. Und dort war ER, der fürsorgliche Führer, und winkte uns allen zu – auch mir, denn für einen kurzen Moment sah ER genau zu mir herüber! Durch den Blickkontakt fühlte ich mich mit IHM und über IHN mit dem ganzen E.D.V. verbunden. Ich war nicht allein.

...wird fortgeätzt...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen