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Freitag, 8. August 2008

Die Linden Alley


"Es gibt nichts Schöneres als die Lindenallee, wenigstens nicht in Eisenhüttenstadt; für die Stadt bedeutet sie alles. Kaum betrittst du die Lindenallee, riecht es auch schon nach Bummeln. Du hast eine dringende Angelegenheit zu erledigen und betrittst sie - du vergisst jede dringende Angelegenheit. Hier ist der einzige Ort, wo die Menschen nicht aus Notwendigkeit erscheinen. Die Lindenallee ist das allgemeine Verkehrszentrum der Stahlinstadt. Der Bewohner der Werksiedlung oder des VI. Wohnkomplexes, der schon jahrelang nicht mehr bei seinen Freunden in Fürstenberg oder Schönfließ gewesen ist, kann sicher sein, sie hier zu treffen. Kein Adressbuch und keine Auskunftei liefern so verlässliche Neuigkeiten wie die Lindenallee. O allmächtige Lindenalley! Du einzige Zerstreuung der an Spazierwegen armen Stahlinstadt...

Hier werdet ihr einem einzigartigen Lächeln begegnen, einem Lächeln, über alle Kunst erhaben. Hier werdet ihr Leuten begegnen, die sich mit einem hohen Gefühl der eigenen Würde über ein Konzert auf der Freilichtbühne oder das Wetter unterhalten. Hier werdet ihr tausend unvollstellbaren Charakteren und Erscheinungen begegnen. Ihr glaubt, dass dieser Herr dort, der in einem vornehm geschneiderten Gehrock spazierengeht, sehr reich ist? Keine Spur! Er besteht einzig aus seinem Gehrock..."

Der diese poetischen Zeilen schrieb, heißt nicht Ben Kaden. Es war auch nicht euer ergebener Erzähler Andi Leser, nein, diese Zeilen schrieb Alexander Puschkins Zeitgenosse ("Sowremennik") Nikolas Gogol. Und das bereits 1835. Allerdings über den Petersburger Newskijprospekt und nicht über die Lindenallee, und das auch noch auf Russisch und nicht auf Deutsch.

Doch was liegt näher, in einer Stadt, deren breite Straßen an russische Städte wie Magnetogorsk, Saporoschje, Minsk oder eben an Petersburg denken lassen, für russische Literatur zu schwärmen! Die Pawlowallee lädt geradezu ein, sich mit einem Buch von Bulgakow, Samjatin oder Daniil Charms ("Puschkin oder Gogol" in Fälle) einzufinden und die Olympiade als Peking-Ente abzutun. Lassen wir das Fernsehen sein, was es zu sein vorgibt: ein Kamin, der nicht wärmt (bis auf die alten russischen Modelle von Raduga). Amüsieren wir uns lieber für eine Stunde oder zwei mit Bulgakows "Teufeliaden" oder Gogols "Mantel", denn wir alle kommen vom Mantel her.

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