Kasernenstadt mit Ornamenten
Just als ich mich an Fotografien vergangener Hüttenstadtbegehungen ergötzte und in Gedanken diese Wege erneut beschritt, fing auch schon Ben, wortgewandter Haudegen aus dem Nachbarblog, meinen Gedankengang telepathisch auf und erwiderte diesen telefonisch. Sogleich wurde ein Gipfeltreffen am selbigen Tage vereinbart, um bei einem sonntäglichen Spaziergang die alternative Stadtwahrnehmung zu schärfen. Anscheinend war die akute Telefonitis ausgebrochen, denn im Anschluss meldete sich der nächste Zeitgenosse, den ich analog zu meinem Namen mit Andi Presse aus Bad Freienwalde anonymisieren möchte.
Als Andi andeutete, er sei noch nie in Stahlinstadt gewesen, war eine Idee geboren. Warum nicht beide Telefonate miteinander kombinieren und Andi Presse mit auf Tour nehmen? Nun hatten wir einen Probanden, der unvorbelastet unbekanntes Terrain beschreiten konnte!
Am Bahnhof empfing uns Ben als Chauffeur und die erste Verwunderung. Der Bahnhof sehe so alt und heruntergekommen aus, meinte unsere Testperson. “Das ist ja auch noch nicht Eisenhüttenstadt!” Ben startete seine Zeitmaschine und fuhr uns durch die Architekturgeschichte der achtziger (VII. Wohnkomplex) und siebziger (VI. WK) direkt in die fünfziger Jahre, ins Herz der Stadt, wo er auf dem Zentralen Platz parkte. Dann ging es per pedes weiter.
Um den geneigten Leser nicht mit all zu vielen Details zu martern, die mir zwar wichtig, dem Unbeteiligten jedoch nur nichtig scheinen, straffe ich ab hier ein wenig. Wir bestaunten die Sanierungen in der Heinrich-Heine-Allee, deren Erker Motive aus den Märchen des jung gestorbenen und von mir sehr geschätzten Wilhelm Hauff zeigen (Der kleine Muck, Kalif Storch). Wir ersannen angesichts des verfallenden Ledigenwohnheims das Konzept eines Bordelphinariums, in dem sich Richards Nixen tummeln. Wir suchten das DDR-Museum auf, aus dessen Eingang unbegreiflicherweise mein Vater höchstselbst wie ein Deus ex machina herausschnellte, um zu verkünden, dass es heute keinen Eintritt koste, da Tag des offenen Museums sei. Wir erkundeten den V. Wohnkomplex, der den Eindruck machte, als sei er am Abreißbrett entstanden und bestiegen der romantischen Neigung der Deutschen folgend dort sogleich eine Hausruine. Merkwürdig, wie beengt die Wohnungen nun wirken, obwohl die Möbel und der ganze Rest fehlen!
Der nächste Zufall wartete vor der Juri-Gagarin-Schule, als Ben mit eigenen Ohren fühlen durfte, dass er gehört wurde, und zwar als Rapper. Ein paar herumhängende Ghettobewohner lauschten einer zehn Jahre alten Produktion des Reimgeschwaders. Der Titel dieser Ausnahme: Hüttenstadt ist meine Stadt. Was für ein Statement! an was für einem Ort!
Zum Abschluss gönnte ich meinen Weggenossen in der weltberühmten Milchbar am Friedrich-Wolf-Theater ein Eis zur Erfrischung. Mein hierbei geäußertes Kompliment, dass die Stadt wohl nur nach diesem Eis benannt worden sein kann, kam bei der Inhaberin nicht als solches an. Das Risiko des Don Juan.
Nach seinem Eindruck zur Stadt befragt, äußerte unser Bad Freienwalder Versuchskaninchen, dass ihn die ganze Stadt in ihrer Bebauung an eine Kaserne erinnere. “Ein wenig eintönig, wären da nicht die vielen Ornamente an den Hauswänden.” Allerdings sei das nicht negativ gemeint, schenkte uns Andi eine Kelle Trost hinterher. Eigentlich hat er sogar recht! Eisenhüttenstadt, die Stadt der kasernierten Volkspolizei. Jedenfalls war Andi Presse voller lebendiger Eindrücke und seine Digicam voller wirkmächtiger Bilder.
O Allmächtiger, der du uns so reichlich beschenkt hast an diesem Tag, gedankt sei dir! Dafür verzeihe ich dir sogar die frühen Tode von Wilhelm Hauff und Novalis. Dir sei vergeben! Gelobt sei der Herr! Hallelujah!
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